Reetdächer: Das umweltfreundlichste Dach der Welt ist Opfer seines eigenen Erfolgs
Es gibt ein Produkt, das annähernd CO2-frei produziert werden kann und danach, während es im Einsatz ist, sogar noch den Klimakiller Kohlendioxid absorbiert: Reetdächer sind nicht nur wegen ihres Aussehens beliebt. Warum das Geschäft mit dem Schilf trotz hoher Nachfrage und Nachhaltigkeit dennoch unter Druck steht.
Als besonders redselig gelten die Menschen ganz im Norden Deutschlands nicht. Aber reetselig – das trifft auf die Küstenbewohner schon eher zu. Denn gerade dort oben lieben sie Dächer aus Schilfrohr, wie Reet im Rest der Republik heißt. Die ersten mit Reet überdachten Behausungen gab es schon 4000 vor Christus, wie die UNESCO erforscht hat.
Hierzulande kamen sie vor allem auf Bauernhäusern und Mühlen zum Einsatz. War die Technik früher ideal für den ärmeren Teil der Gesellschaft, steht es heute bei gut Betuchten auf dem Wunschzettel, wenn renoviert oder neu gebaut wird. Zudem reißen sich derzeit touristische Ressorts um die Handwerksbetriebe, die Reetdächer decken.
Die Kosten pro Quadratmeter Reetdach belaufen sich bei einem Neubau auf knapp 200 Euro. Für eine Dachsanierung kann man mit fast dem doppelten Preis rechnen, da oft noch eine energetische Sanierung und die des Dachstuhls hinzukommen. Zum Vergleich: Das Decken eines Dachs mit Ziegeln ist für 70 bis 80 Euro zu haben.
Reetdächer: Gut fürs Klima und senkt die Heizkosten
Das hat auch damit zu tun, dass der Rohstoff in Deutschland kaum noch zu bekommen ist. Die Geschichte ist exemplarisch für das, was Kritiker „umgekehrten Naturschutz“ nennen. Man kann das übersetzen mit: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Reet gab es hierzulande immer zuhauf, schließlich wächst Schilfrohr in Mooren und davon gibt es gerade im Norden eine Menge. Doch in den 1980er-Jahren erschwerten zunehmend Umweltregularien die Ernte. Die Moore sollten sich selbst überlassen bleiben, so die Idee. Die Erntezeit durfte nur noch bis Ende Februar stattfinden. Selbst wenn es dann noch keine nistenden Vögel gab, mussten die Bauern abbrechen. Zudem wurden viele Moore trockengelegt.
Dadurch sank die Ernte. Nur noch 15 Prozent des Bedarfs stammen inzwischen aus Deutschland. Schilfrohr muss heute aus Ungarn, der Türkei und Rumänien importiert werden. Inzwischen weiß man, dass es besser wäre, die Moore wieder unter Wasser zu setzen und darin Schilf wachsen zu lassen, denn das ist gut für das Klima.
Doch Schilf ist nicht nur, bevor es aufs Dach kommt, ein guter CO2-Speicher, sondern auch während des jahrzehntelangen Einsatzes auf Häusern. Dritter Grund, warum Besitzer von Reetdächern etwas für die Umwelt tun: Es isoliert ausgesprochen gut. Das bedeutet weniger Wärmeverlust im Winter und weniger Aufheizen im Sommer – zumindest wenn es mit Mineralwolle kombiniert wird. Gerade angesichts der aktuellen Gaspreise ist das für viele ein wichtiges Argument.
Warum die Branche dennoch unter Druck steht
Reet wird längst nicht mehr nur auf dem Dach eingesetzt. Zum Beispiel auch für Gartenzäune, Sonnenschirme, Dämmplatten und Trinkhalme ist Schilf im Kommen. Das Geschäft mit den Dächern aus Schilfrohr steht dagegen unter Druck. Erstens ist man Opfer des eigenen Erfolgs: Sie werden immer besser in Schuss gehalten und optimal repariert – so halten sie bis zu 80 Jahre. Dadurch sinkt der Bedarf, neu zu decken.
Der Hauptgrund für die Schwierigkeiten der Reet-Dachdecker ist aber der fehlende Nachwuchs: In Deutschland gibt es pro Jahr nur maximal zehn Lehrlinge. Dabei hat die Deutsche UNESCO-Kommission dieses Handwerk 2014 übrigens zum immateriellen Kulturerbe erklärt. Doch das allein scheint kein hinreichendes Argument für junge Leute zu sein.
Das Original zu diesem Beitrag „Das umweltfreundlichste Dach der Welt ist Opfer seines eigenen Erfolgs“ stammt von WirtschaftsKurier.
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