Es gibt eine bekannte optische Täuschung, die gut zu dem passt, was Rot-Grün-Gelb gerade versucht. Wer schon einmal mit dem Zug am Bahnhof stand, kennt das Phänomen. Der eigene Waggon bewegt sich nicht, aber am Bahnsteig gegenüber fährt der Zug los und gleitet am Abteilfenster vorbei. Für einen Augenblick fühlt es sich dann so an, als sei man selbst schon unterwegs. In Wahrheit aber steht man, manchmal noch ziemlich lang.
So ist es auch mit dem jüngsten Papier, das die Koalitionäre in Berlin nach dreißigstündiger Marathonsitzung unter Leitung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ausgebrütet haben: Es soll sich anfühlen, als nähmen sie Fahrt auf, in Wahrheit aber stehen sie. Nur die Welt draußen bewegt sich immer schneller.
Eine gründliche Analyse des Papiers, das fast wie ein kleiner Koalitionsvertrag daherkommt, zeigt, dass die Politiker von SPD, Grünen und FDP dem Publikum Beschlüsse als neu und zukunftsgewandt verkaufen, die in Wahrheit von gestern und manchmal auch von vorgestern sind. Ganz offenbar setzen die Regierenden aufs schnelle Vergessen. Beispielhaft deutlich wird das an sechs Punkten:
1. Tempo bei den Ladesäulen
Scholz hat als greifbarstes Ergebnis des Koalitionsausschuss den Beschuss verkündet, dass es innerhalb von fünf Jahren an allen Tankstellen Schnellladepunkte geben soll – was die Entscheidung von Autokäufern für ein E-Mobil beeinflussen soll. Der Kanzler kündigte ein entsprechendes Gesetz an.
Er hätte in den Masterplan der Vorgängerregierung gucken können, welcher er selbst als Finanzminister angehörte: 2019 beschloss die damalige Bundesregierung, dass „an allen Tankstellen in Deutschland Ladepunkte angeboten werden sollen, an denen zu günstigen Preisen Elektrofahrzeuge aufgeladen werden können.“ Scholz von vorgestern.
2. Mehr Platz für Windräder
Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck ist besonders stolz auf ein Verhandlungsergebnis, das die Grünen erzielt haben. „Gewerbe und Industrie brauchen mehr günstigen Windstrom“, stellen die Koalitionäre fest und kündigen an, was jetzt zu tun sei: Es soll „eine flächenspezifische Außenbereichsprivilegierung für bestimmte besonders geeignete Flächen eingeführt werden. Auf diesen Flächen sollen Windenergieanlagen für die direkte Belieferung der benachbarten Unternehmen errichtet werden können, ebenso soll auch der Eigenverbrauch ermöglicht werden.“
Neu? Kein Stück. Wer im Baugesetzbuch blättert, stößt dort auf den Paragraphen 35. Dort heißt es in Absatz eins: „Vorhaben, die der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Wind- und Wasserenergie dienen, sind im Außenbereich privilegiert.“ Mit dieser Regelung soll die Windenergie gefördert werden. Gerichte weisen mit Blick auf diese Regelung Klagen gegen den Bau neuer Windräder in der Nähe von Wohnflächen oft ab. Warum die Koalitionäre das nun erneut beschließen mussten, wissen nur sie selbst.
3. Entlang der Autobahnen werden Flächen für die Energieerzeugung geschaffen
Es werden, so heißt es in dem 16 Seiten-Papier, unter dem die Tinte noch nicht trocken ist, „Flächen entlang der Autobahnen“ geschaffen, die „grundsätzlich für erneuerbare Energieerzeugung zu nutzen“ sind. „Es wird klargestellt, dass nunmehr im Rahmen der
anbaurechtlichen Beurteilung die Belange der erneuerbaren Energien grundsätzlich überwiegen.“
Es ist nicht falsch, dass die Regierungsparteien das feststellen, aber sie hätten sich das Papier sparen können. Im Dezember 2022 haben nämlich Bundestag und Bundesrat ein Gesetz auf den Weg gebracht, das mit seiner Veröffentlichung am 11. Januar Gültigkeit erlangt hat. Es sieht ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren für Photovoltaikflächen entlang von Autobahnen und mehrgleisigen Schienenstrecken vor. Das Fernstraßen-Bundesamt betont seither, dass das generelle Bauverbot 40 Meter neben diesen Fahrbahnen entfallen kann.
4. Die LKW-Maut gilt künftig für Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen
„Die Lkw-Mautpflichtgrenze wird zum 1. Januar 2024 abgesenkt, sodass grundsätzlich alle Nutzfahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen technisch zulässiger Gesamtmasse in die Gebührenerhebung einbezogen sind.“ Niemand hindert SPD, Grüne und FDP daran, das jetzt in ihre neue Vereinbarung zu schreiben, hoffentlich haben sie sich es aber wenigsten so einfach gemacht und die Tastenkombination „copy paste“ verwendet.
Denn genauso steht es bereits im Koalitionsvertrag vom November 2021. Neu ist einzig, dass jetzt feststeht, dass Handwerksbetriebe von dieser Regelung ausgenommen sind. Bislang war das nur eine Forderung der FDP – und natürlich der Handwerker. Sie können jetzt aufatmen. Die Koalition hat sie erhört.
5. Mehr Güter auf die Schiene
Ausnahmslos jede deutsche Regierung der vergangenen 20 Jahre hat sich diesem Ziel verschrieben. Jetzt steht es wieder in dem jüngsten Koalitionspapier: „Der Schienengüterverkehr soll bis 2030 einen Marktanteil von 25 Prozent erreichen.“ Tatsache ist, der Anteil stagniert trotz aller Forderungen und Förderungen seit Jahren bei rund 18 Prozent.
Der Grund ist ganz einfach: Der LKW ist das überlegene Transportmittel, weil er es auch die letzten Meter bis zur Lieferadresse schafft. Die Güterbahn kommt immer nur bis zum Güterbahnhof. Dann wird umgeladen. In einen LKW.
6. Das 49-Euro-Deutschlandticket soll in die Bahncard 100 integriert werden
Damit haben sich die Regierenden den Interessen der überwiegend gutverdienenden 36.000 Bahncard-100-Besitzer in Deutschland angenommen. Ob die so richtig dankbar sind, steht allerdings noch nicht fest.
Sie haben vor drei Monaten eine Erhöhung des Preises für ihre Bahncard um fünf Prozent hinnehmen müssen. Der Staatskonzern Deutsche Bahn hat ihnen also auf der einen Seite einen Teil dessen bereits aus der Tasche gezogen, was ihnen der Staat nun auf der anderen Seite wieder hineinstopft.
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