Klimaneutral werden mit Wasserstoff: Deutschland steht vor der Herausforderung, eine neue Leitindustrie zu formen. Und während China und die USA sich längst in Stellung gebracht haben, ist hierzulande der Kampf um die Energiewende in vollem Gange.
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Wenn die deutsche Industrie eine Zukunft haben will, muss auch Timo Bollerhey seinen Job gut machen. Er kauft ein bislang ebenso teures wie seltenes Gut ein, das man bald in rauen Mengen brauchen wird. Bollerhey handelt mit dem Lebenselixier der Energiewende, das die Transformation der Wirtschaft erst so richtig möglich machen soll: Wasserstoff.
Bollerhey empfängt in den Büros von H2Global, einer Stiftung mit Sitz in Hamburg, gelegen zwischen Speicherstadt und Altstadt nahe der Elbe. In den luftigen Räumen mit Blick auf den Hafen erklärt er sein Geschäftsmodell. Knapp 60 Unternehmen haben sich der Stiftung bislang angeschlossen, darunter auch Energieriesen wie RWE und Siemens Energy.
Für die Bundesregierung ist H2Global das maßgebliche Instrument, um einen Markt für Wasserstoff zu kreieren und eine Wertschöpfungskette überhaupt erst entstehen zu lassen. Ausgestattet mit Staatsgeld starten sie nun Auktionen für den Kauf des Zukunftsstoffes und weitere Auktionen auf der Abnehmerseite, bringen also Produzenten und Käufer zusammen. „Wir bauen Brücken in eine Wasserstoff-Wirtschaft“, sagt Bollerhey.
Aufbruch in die Wasserstoff-Wirtschaft
Dabei geht es um ein Molekül, von dem viele bislang kaum mehr wussten, als dass es existiert. Nun brauchen plötzlich ganze Branchen, die industriellen Kerne der Republik, die Ware: Chemiewerke, Kupferhütten, Raffinerien und Stahlwerke setzen auf Wasserstoff, um klimaneutral zu werden. Hunderttausende Menschen arbeiten in diesen Industrien.
Der Aufbau der Wasserstoff-Wirtschaft eilt, auch weil etwa die USA mit dem Inflation Reduction Act (IRA) längst ein milliardenschweres Konjunkturprogramm für grüne Technologien auf den Weg gebracht haben, das mit viel Subventionsgeld Firmen aus dem Rest der Welt anzieht wie ein Magnet. Ein gewaltiger Wettlauf gegen die Zeit hat damit begonnen.
Bis 2030 sollen 80 Prozent des in Deutschland benötigten Stroms grün erzeugt werden, also aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen. 2035 sogar nahezu 100 Prozent.
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Notwendige Mengen Wasserstoff sind gewaltig
Dazu muss der Netzausbau enorm beschleunigt werden, neue Stromspeicher müssen entstehen. Und die Bundesregierung will noch in diesem Jahrzehnt Dutzende wasserstofffähige Gaskraftwerke bauen. Die wiederum sollen anlaufen und den Wasserstoff verbrennen, wenn gerade zu wenig Wind weht oder die Sonne nicht scheint. Dann stabilisiert die Energie der Kraftwerke das Netz. Auch im Flug- und Schiffsverkehr wird Wasserstoff als Grundlage von E-Fuels benötigt. Kann all das gelingen?
Die notwendigen Mengen an Wasserstoff werden jedenfalls gewaltig sein. Auch deshalb ist die Arbeit von Bollerhey und H2Global so wichtig. „Wir wollen und müssen jetzt so viele Preissignale in die Welt senden wie möglich“, sagt Markus Exenberger, Mitinitiator von H2Global.
Deutsche Technologiefirmen bringen sich in Stellung
Im Dezember 2022 startete die weltweit erste Auktion für den Kauf von grünem Wasserstoff, initiiert über die Tochterfirma Hint.Co, der Bollerhey vorsteht. Die Ausschreibung hatte ein Volumen von 900 Millionen Euro, über zehn Jahre soll durch sie Wasserstoff in Derivaten wie Ammoniak oder Methanol bereitgestellt werden. „Der Andrang war gewaltig, und ebenso sind es die Erwartungen“, sagt Bollerhey. Weitere Ausschreibungen, mehrere Milliarden Euro schwer, sind schon in Arbeit.
Der Bedarf hat längst auch etablierte Produzenten auf den Plan gerufen. Siemens Energy etwa siedelt seine industrielle Produktion von Elektrolyseuren in Berlin an. Diese gewinnen Wasserstoff unter Einsatz von grünem Strom, indem sie Wasser in seine Bestandteile aufspalten.
Im Zentrum der Hauptstadt, wo bislang vor allem Gasturbinen gebaut werden, entstehen auf 2000 Quadratmetern neue Fertigungslinien für die grüne Technologie. Noch dieses Jahr startet dort die Produktion mit einer Kapazität im Gigawattbereich. RWE betreibt derzeit rund 30 grüne Wasserstoff-Projekte. Etwa in Lingen, wo am Standort des dortigen Gaskraftwerks bereits Elektrolyseure der Dresdner Wasserstoff-Firma Sunfire und des Gaskonzerns Linde installiert sind.
McKinsey-Mann sieht neue Leitbranche
Auch für Bernd Heid haben entscheidende Jahre begonnen. Er ist Seniorpartner der Unternehmensberatung McKinsey und skizziert das Bild einer deutschen Volkswirtschaft, in der es noch wenige wirkliche Leitindustrien gebe, die global führend seien, etwa der Maschinenbau und die Automobilindustrie. „Die Führungsposition in der Wasserstoff-Technologie könnte Deutschland eine neue Leitindustrie bescheren“, sagt Heid.
Das Gute daran: Herstellung und Transport von Wasserstoff beinhalten eine Vielzahl Technologien, die deutsche Unternehmen beherrschen. „Zahlreiche mittelständische Unternehmen könnten davon profitieren“, glaubt Heid. Und das, obwohl Deutschland doch eine Exportnation ist und Wasserstoff hierzulande künftig kaum produziert werden dürfte?
Windkraft, Sonnenenergie und Erdgas für die Herstellung blauen Wasserstoffs sind nur begrenzt vorhanden. Der Preis für die Produktion wäre zu hoch, aber: „Von der Technologieführerschaft profitieren auch die weiteren Industrien“, sagt Heid. „Technologie ermöglicht es, Wasserstoff günstig bereitzustellen und die Kosten der Industrien zu senken.“
Von zentraler Bedeutung ist nun ein neuartiges Wasserstoff-Netz. Auch Teile der bisherigen Gasverteilnetze müssten umgewidmet werden. „Der Aufbau der Wasserstoff-Infrastruktur muss jetzt schnell geschehen“, sagt Heid. „Wenn wir’s jetzt nicht bauen, werden Unternehmen die nötigen Investitionsentscheidungen nicht treffen und zahlreiche Industrien darunter leiden.“
Aber auch die Politik in Berlin und Brüssel sei gefragt. „Europa sollte noch immer eine Antwort finden auf den Inflation Reduction Act und verlangt Heid. Die Industrie fordere vor allem mehr Tempo bei Entscheidungen und Genehmigungen. Das Motto könnte lauten: Wann, wenn nicht jetzt?
Die Stromnetze sind der Flaschenhals der Energiewende
Diese Frage könnte Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck vor Augen gehabt haben, als er im Dezember 2021 sagte: „Das Antlitz des Landes wird sich verändern, der Arbeitsmarkt ein anderer werden, soziale Fragen stellen sich.“ Das gilt für alle drei Teil-Branchen. Die Hälfte des Ausbaus der Solarenergie soll auf freier Fläche geschehen, Solarpaneele sollen künftig jedes Dach nutzen. Fünf bis sieben XXL-Windräder müssen errichtet werden, und das jeden Tag. Dass eine klimaneutrale Gesellschaft viel mehr Strom braucht für Wärmepumpen, Ladesäulen, energieintensive Unternehmen und die Industrie, macht den Ausbau noch drängender. Schon zeigen sich erste Hindernisse.
„Die Stromnetze sind ein maßgeblicher Flaschenhals der Energiewende. Der Ausbau muss dringend an Fahrt aufnehmen, um die Netze für die kommenden Aufgaben zu rüsten“, so Paul Lehmann, Energieökonom und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Leipzig. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu verstehen, dass viel Wohlstand vom Gelingen der Energiewende abhängt.
Grüne Energie wird zum Standortfaktor
Grüne Energie ist dabei schon jetzt ein Standortfaktor. Das belegen die Ergebnisse einer aktuellen Studie, an der das Institut der Deutschen Wirtschaft und die Stiftung Klima-Wirtschaft mitwirkten. Dort schneidet der Norden Deutschlands mit der stark ausgebauten Windenergie erheblich besser ab als der Süden.
Während Habeck gerne den Ausbau von Wind und Solar preist, blickt Volker Quaschning skeptisch auf die kommenden Jahre. „Wenn man vor Augen hat, wie schnell wir klimaneutral werden sollten, müsste die Energiewende enorm an Fahrt aufnehmen“, sagt der Professor für regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin (HTW).
Der Ausbau der Erneuerbaren laufe aber einfach nicht schnell genug. Auch Batteriespeicher und Reservekraftwerke würden noch länger fehlen, der Netzausbau hinke hinterher. „Hätte man vor 30 Jahren angefangen, müsste man jetzt nicht alles gleichzeitig machen. Dadurch wird es nun kompliziert“, sagt er.
Hochlauf mit Technik aus China?
Um die Nachfrage zu stillen, die das Projekt Klimawende provoziert, werden auch heimische Industrien nötig sein, Hersteller von Windkraftanlagen ebenso wie jene von Solarmodulen. Es geht darum, wo der Wohlstand generiert wird, all die Milliarden, die nun in eine grüne Energie-Wirtschaft investiert werden müssen.
Und ein Blick auf die Branchen zeigt: Man hätte nicht nur früher anfangen, man hätte auch bewahren müssen. Einst war ausgerechnet die Solarindustrie eine deutsche Vorzeigebranche. Vor allem in Sachsen-Anhalt residierten global führende Unternehmen. Bis China den Markt mit hochsubventionierten Billigmodulen überschwemmte und die schwarz-gelbe Bundesregierung die Subventionen kappte. Von 150 000 Arbeitsplätzen gingen rund 100 000 verloren. Nun ist es Solartechnik aus China, die rund 80 Prozent des globalen Marktes ausmacht.
Zehn bis 15 Milliarden Euro riefen Vertreter der Branche als Summe auf, um die europäische Solarindustrie wiederbeleben zu können. Gunter Erfurt, Chef des Technologieführers Meyer Burger, warnte angesichts der guten Förderbedingungen in den USA erst vor wenigen Wochen in einem Brief an Finanzminister Christian Lindner (FDP) vor einer Abwanderung der Solarindustrie.
Angesichts der aktuellen Bedingungen erwäge auch Meyer Burger, die „Projekte für weitere Solarfertigung in Deutschland zunächst abzubrechen und diese Projekte in die USA zu verlagern“. Wenig später kündigte Habecks Ministerium eine Förderung für Solarfirmen an, die Kapazitäten aufbauen.
„Viele Milliarden in einem kleinen Zeitfenster“
Robuster aufgestellt ist die deutsche Windindustrie. Auch ihr Geschäft war vollständig eingebrochen, weil frühere Bundesregierungen den Ausbau der Windkraft lange deckelten. Tausende Stellen gingen verloren. „Hier hat eine Zukunftsbranche gelitten“, sagte Wolfram Axthelm, Geschäftsführer des Bundesverbandes Windenergie (BWE), vor wenigen Monaten. Allein die Ausbauziele der Bundesregierung rechtfertigen einen Aufschwung dieser Industrie, die sich als weltweit führende Branche versteht. 130 000 Menschen arbeiten im Windsektor. Und immerhin, der Zubau auf dem Land gewinne an Dynamik, hieß es vom BWE diese Woche.
Für Volker Quaschning ist es jedenfalls nicht zu spät, die grünen Industrien auf das nötige Maß auszubauen. „Produktionsstätten könnten innerhalb weniger Jahre hochgefahren werden. Die Bundesregierung muss erkennen, dass in einem kleinen Zeitfenster viele Milliarden investiert werden müssen“, sagt er.
Doch das allein reiche nicht. Es brauche auch die richtigen Signale in der Politik. „Deutschland kann sich nicht klar zu Zukunftstechnologien bekennen. Das rächt sich in den Entscheidungen der Unternehmen.“ Ein Beispiel sei der monatelange Streit ums Heizungsgesetz. „Der Politikstil der Ampel schafft zu viele Unsicherheiten bei Bürgern und Unternehmen“, kritisiert HTW-Experte Quaschning.
„Für ein Exportland ist das kein guter Ausblick“
Investitionen sind aber umstritten. „Wir brauchen signifikante Industriekapazitäten in Europa“, mahnt Ökonom Lehmann. In welchem Umfang und an welchen Stellen es dafür große Investitionen des Staates brauche, wie die USA oder China sie anbieten, müsse genau geprüft werden. „Entscheidend ist, dass die notwendigen Infrastrukturen verfügbar sind, Genehmigungsverfahren schlank und Forschung und Entwicklung gut aufgestellt sind. Auch so lässt sich die Industrie stärken.“
Dekarbonisierung, Wasserstoff, Energie- und Wärmewende – und all das zeitgleich. Die Anstrengungen sind gewaltig. Quaschning ist dennoch sicher, dass die Klimawende gelinge. „Ob der Wohlstand durch grüne Technologien hierzulande generiert wird, ist allerdings fraglich. Für ein Exportland ist das kein guter Ausblick“, sagt der Professor.
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