Niemand will es mehr hören, denn diese Wahrheit ist wirklich trist: Deutschland steckt in einer Rezession. Wann wir wieder herauskommen, ist ungewiss. Und das Unangenehmeste: Es sieht alles danach aus, als sei das Problem eines, das sich die Handelnden in diesem Land selbst zuzuschreiben haben. Es ist die Politik im Zusammenspiel mit einem außer Rand und Band geratenen Verwaltungsapparat, der das Land lähmt.
Zunächst die nackten Zahlen: Im neuen Wachstumsausblick des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist die deutsche Volkswirtschaft unter den 22 untersuchten Staaten und Regionen die einzige, in der das Bruttoinlandsprodukt 2023 sinken soll. Der IWF rechnet mit einem Minus von 0,3 Prozent, teilte die Organisation diese Woche mit. Auch 2024 könne Deutschland den Rückstand kaum aufholen. Der IWF erwartet dann ein BIP-Wachstum von 1,3 Prozent. Schon im Winterhalbjahr war die deutsche Wirtschaft in eine Rezession gerutscht. Im Anschluss hatten die meisten Ökonomen einen kleinen Aufschwung erwartet. Doch inzwischen spricht immer mehr dafür, dass selbst der Mini-Aufschwung ausbleibt. Die Zeit der konjunkturellen Stagnation hält an.
Der IWF sieht die anhaltende Schwächephase vor allem durch die Industrie ausgelöst. Das zeigt sich unter anderem bei den Aufträgen. So ist das Auftragspolster der deutschen Industrie im Mai den dritten Monat in Folge geschmolzen. Der Auftragsbestand im verarbeitenden Gewerbe sank um 0,5 Prozent im Vergleich zum Vormonat, wie das Statistische Bundesamt vergangene Woche mitteilte. Der Ifo-Geschäftsklimaindex weist in die gleiche Richtung. Er ist im Juli auf 87,3 Punkte gefallen, nach 88,6 Punkten im Juni. Es ist der dritte Rückgang in Folge. Das Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo befragt für das Barometer regelmäßig 9000 deutsche Manager. Die Unternehmen sind mit den laufenden Geschäften merklich unzufriedener und erwarten nichts Gutes. „Die Lage der deutschen Wirtschaft verdüstert sich“, folgert Ifo-Präsident Clemens Fuest.
So weit, so ernüchternd. Doch woran liegt es, dass Deutschland die rote Laterne trägt? Im Gespräch mit Unternehmern und Ökonomen zeichnen sich vier Punkte ab, die hierzulande schlechter laufen als anderswo: Hohe Energiepreise, ausufernde Bürokratie, nervenaufreibende Trägheit der Verwaltung und ein ungebrochener Arbeitskräftemangel ergeben eine Mischung, die Marie-Christine Ostermann, Präsidentin der Familienunternehmer, für den Ausbruch von dem verantwortlich macht, was sie „AIV“: „Anti-Investitionsvirus“ nennt. „Dies könnte der Beginn einer sich selbst verstärkenden Welle sein. Ist AIV erst ausgebrochen und breitet sich aus, könnten sogar die Arbeitslosenzahlen wieder steigen“, warnt sie.
Vier Beispiele ganz unterschiedlicher Art zeigen, wie die selbst verschuldeten Probleme diejenigen, die in Deutschland etwas unternehmen wollen, belasten.
Energiekosten jenseits von Gut und Böse
Die Strompreise in Europa sind nach dem russischen Angriff auf die Ukraine in einigen Ländern viel schneller gestiegen als im Rest Europas. Das führt zu immer größeren Preisunterschieden in der EU. So kostete im zweiten Halbjahr 2022 die Kilowattstunde Strom in Ungarn 9,8 Cent, in Deutschland aber mit 37,4 Cent fast vier Mal so viel. In einigen Ländern sind die Strompreise noch stärker gestiegen, so dass Deutschland 2022 seine langjährige, aber nicht sehr ehrenvolle Spitzenposition als teuerstes Stromland in der EU verloren hat. Immerhin: Der europäischen Statistik zufolge zahlten private Stromkunden in Deutschland 43 Prozent mehr als ihre Nachbarn in Österreich, da hierzulande nicht nur die russischen Gaslieferungen ausgefallen sind, sondern gleichzeitig auch die Energiewende unverdrossen vorangetrieben wird. Auch in Frankreich war der Strom mit 25,8 ct pro kWh sehr viel günstiger als in Deutschland. Mehr für ihren Strom zahlten die Nachbarn in Belgien und Tschechien. Den Spitzenplatz belegt Dänemark, dort war mit 61 Cent pro Kilowattstunde der Strom am teuersten in der EU.
Was für die Privatkunden gilt, belastet auch die Industrie. Sie kann zwar Sonderkonditionen aushandeln, sich aber nicht dem allgemeinen Trend entziehen. Derzeit ist Strom im Großhandel für etwa zehn Cent pro Kilowattstunde zu haben. Industrie, Gewerkschaften und auch der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sind sich einig, dass das viel zu teuer für auskömmliche Geschäfte in energieintensiven Branchen ist. Um Subventionen wird jedoch noch immer gerungen – und auch sie können nicht dauerhaft helfen. Die energieintensivste Branche ist die Chemie. Ihr Verbandschef Markus Steilemann sagt: „Das Haus brennt, die Zahlen sind rot.“ Die ehemalige Vorzeigebranche der deutschen Industrie verzeichnet gegenüber dem Vorjahreshalbjahr eine um ein Sechstel gesunkene Produktion. „Wir sind der erste Dominostein, der wackelt“, stellt Steilemann fest. „Wenn es uns schlecht geht, folgen bald auch andere.“
Bürokratie bringt Unternehmen auf die Palme
Der Verband der Familienunternehmer hat eine Umfrage gemacht und wollte wissen, was seine Mitglieder in Deutschland am meisten belastet. Ergebnis: Die Klage über zu viel Bürokratie und Regelungswut lag einmal mehr auf dem Spitzenplatz. Beispiele gibt es zuhauf. Lieferketten-Überwachung, Datenschutz bis zur Absurdität oder etwa dieses Beispiel: Markus Eiden ist Projektentwickler für erneuerbare Energien und im Nebenberuf Bauer. Er möchte Kühe unter Solarpaneels auf einer Weide unterbringen. Das darf man in Deutschland – außer in Hermeskeil bei Trier, wo Eiden dummerweise zu Hause ist. Seit drei Jahren kämpft der Nebenbei-Landwirt mit der Bürokratie. Doch die zuständige Behörde im Landkreis Trier-Saarburg fällt keine Entscheidung über das Genehmigungsverfahren. Während kleine Solarpaneels nicht genehmigungspflichtig sind, brauchen auf Freiflächen aufgestellte Fotovoltaikanlagen ab einer bestimmten Größe den amtlichen Segen. Dabei ist Eidens Idee andernorts längst erprobt. Die Solarpanels sollen – kuhkopfgerecht auf einer Höhe von 1,60 Meter installiert – sogar Strom ins öffentliche Netz einspeisen. Zugleich schützen sie die Tiere im Winter vor Kälte, im Sommer vor zu viel Sonne. Doch den Landwirt martert dasselbe Problem, über das Betreiber großer Solaranlagen klagen. Für das Genehmigungsprozedere könnten sie die Menge der nötigen Akten und Gutachten mit einer Schubkarre ins Amt karren.
Für Projektentwickler Eiden klingt es wie Hohn, wenn sich Wirtschaftsminister Habeck dafür feiert, bürokratische Hürden für Solaranlagen aus dem Weg geräumt und das Zulassungsverfahren zur EEG-Umlage vereinfacht zu haben. Statt wie bisher auf die volle Zertifizierung warten zu müssen, könnten fertiggestellte Solaranlagen bereits vorab ans Netz gehen, meint er. Fehlende Nachweise sollen nach der Inbetriebnahme nachgereicht werden können. Eidens Kühe haben davon bislang aber nichts mitbekommen.
Verwaltung läuft im Schneckentempo
Was nicht überlebensnotwendig erscheint, hakt. Während in der Corona-Pandemie und später unter dem Eindruck abrupt stoppender Energielieferungen aus Russland Verwaltungsverfahren innerhalb von Tagen über die Bühne gingen, herrscht bei den allermeisten Themen inzwischen wieder der große Schlendrian. Zum Beispiel hier: Es ist genau ein Jahr her – am 27. Juli 2022, da verabschiedete die Bundesregierung ihre Start-up-Strategie. Zu den wichtigsten Zielen gehört es, für mehr Wachstumskapital zu sorgen, die Anwerbung von Talenten aus dem Ausland zu vereinfachen und Ausgründungen an Universitäten zu erleichtern. Das Paket umfasst insgesamt zehn Punkte und 127 Einzelmaßnahmen, mit denen man „sehr gut“ vorankomme, sagte die Start-up-Beauftragte des Bundeswirtschaftsministeriums, Anna Christmann, in einem Gespräch mit dem Handelsblatt.
Die Branche hat jedoch einen ganz anderen Eindruck. Sowohl bei den Summen wie auch bei der Zahl der Finanzierungsrunden ist es abwärtsgegangen in den vergangenen Monaten. So halbierte sich das Investitionsvolumen im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum laut dem Start-up-Barometer der Beratungsgesellschaft EY auf knapp drei Milliarden Euro. Die Strategie der Bundesregierung ist offenbar verpufft oder gar nicht erst angekommen. Für letztere Interpretation spricht, dass die Bundesregierung ihr zentrales Gesetz zur Verbesserung der Finanzierungsregeln noch nicht auf den Weg gebracht hat. Das sogenannte Zukunftsfinanzierungsgesetz sollte eigentlich noch vor der Sommerpause beschlossen werden, hatte Kanzler Olaf Scholz zugesichert. Bislang gibt es jedoch nur einen Referentenentwurf aus dem Bundesfinanzministerium. Nach einem „Deutschlandtempo“, wie es sich der Kanzler jüngst vorgestellt hat, sieht das nicht aus.
Die Politik verschärft den Arbeitskräftemangel noch
Auf den vorderen Plätzen bei der Umfrage unter den Familienunternehmern nach Investitionshindernissen landet auch der Fachkräftemangel. Das Problem hat einen demographischen Faktor: Es kommen weniger Junge nach als Alte in den Ruhestand gehen. Aber auch dieses Problem ist hausgemacht, sagt Familienunternehmerin Ostermann. Sie verweist auf staatliche Subventionen in Höhe von knapp zehn Milliarden Euro für ein neues Werk des Chipherstellers Intel in Magdeburg. „Dieser ordnungspolitische Fehler saugt dem Mittelstand regelrecht die Fachkräfte weg.“ Tatsächlich sagen die Arbeitsagenturen in der neuen Boomregion schon jetzt: Der Markt ist leergefegt. Wenn die Konzerne dann mehr bezahlten, um doch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, haben weniger finanzstarke Mittelständler das Nachsehen.
Und die Idee diejenigen umzuschulen, die keine Arbeit mehr haben, taugt nichts, wie derzeit im Saarland zu besichtigen ist. 20.000 Arbeitsplätze zum Beispiel aus der Autoindustrie stehen dort durch den Strukturwandel im Feuer, gleichzeitig soll auch dort mit üppigen Subventionen die neue Chipfabrik eines US-Herstellers hochgezogen werden. Die 20.000 Menschen sollten eigentlich als Arbeitskräfte reichen, nur haben sie das falsche gelernt. „Die Antwort: ,Also umschulen‘ greift zu kurz“, beschreibt Jürgen Barke (SPD), Wirtschaftsminister im Saarland das Problem. „Da passen Theorie und Praxis nicht zusammen. Es gibt 40-Jährige, die sagen ,Für mich reicht es noch‘.“ Der Arbeitskräftemangel bleibt damit bestehen.
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