Interview: „Der Bau neuer Talsperren ist eine logische Konsequenz“
Professor Dirk Carstensen leitet das Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft an der TH Nürnberg und ist Präsident des Deutschen Talsperrenkomitee. Er beobachtet das Geschehen rund um den geborstenen Damm in der Ukraine und zieht Rückschlüsse auf das, was in Deutschland passieren muss. Er hält die hiesigen Bauwerke für sicher. Angesichts der Folgen des Klimawandels plädiert er für den Bau weiterer Talsperren.
Herr Prof. Carstensen, wie wichtig sind Talsperren für unser Land?
Dirk Carstensen: Talsperren werden definitionsgemäß der kritischen Infrastruktur zugerechnet. Es handelt sich also um Bauwerke mit einer sehr großen Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, deren Ausfall oder Beeinträchtigung in jedem Fall unterbunden werden muss. Beispielsweise wären ansonsten nachhaltige Versorgungsengpässe eine Folge. Eine Havarie oder gar eine Zerstörung brächten erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit, unabsehbare Beeinträchtigungen der Natur und Kulturlandschaft sowie große Gefahren für Leib und Leben mit sich.
Und wie sicher sind sie?
Carstensen: In unserer Gesellschaft stellen Talsperren und Hochwasserrückhaltebecken sehr sichere Anlagen dar. In Deutschland ist nach 1750 kein Versagen eines errichteten großen Absperrbauwerkes infolge natürlicher Einwirkungen bekannt geworden.
Aber es gab auch Zerstörungen mit katastrophalen Folgen. Im zweiten Weltkrieg zum Beispiel griffen die Alliierten die Möhnetalsperre. Viele Menschen starben. Lässt sich so etwas einkalkulieren?
Carstensen: Natürlich bestehen bei der Bemessung solcher Anlagen immer gewisse Restrisiken, die vor allem auf die Bemessungsannahmen abzielen, die jenseits der getroffenen Randbedingungen liegen können. Diese können außergewöhnliche und extreme Belastungssituationen im Zusammenhang mit Naturereignissen, einem Terroranschlag oder kriegerischen Handlungen sein.
Über den Experten
Prof. Dr. Dirk Carstensen promovierte und habilitierte an der Technischen Universität Dresden. Neben Arbeiten zum Fluss- und Verkehrswasserbau sowie zum Hochwasser- und Küstenschutz bildeten nach seinem Ruf an die Technische Hochschule Nürnberg im Jahr 2012 in der Hauptsache Arbeiten im konstruktiven Wasserbau zu Hochwasserentlastungsanlagen, Komplexbauwerken sowie zur Durchgängigkeit von Gewässerstrukturen den Schwerpunkt seiner Forschungsarbeiten. Er leitet das unter seiner Federführung gegründete Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft an der TH Nürnberg, ist Autor und Herausgeber verschiedenster Fachliteratur und in der zweiten Legislaturperiode Präsident des Deutschen Talsperrenkomitee e. V. (DTK).
Was passiert bei Starkregen?
Carstensen: Die Hochwasserereignisse vom Juli 2021 in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben uns zuletzt gezeigt, dass an Talsperren Situationen eingetreten können, bei denen es sich um sehr seltene Ereignisse mit äußerst geringen Überschreitungswahrscheinlichkeiten handeln kann. Besonders kritisch war bekanntermaßen die Situation an der Steinbachtalsperre. Weil Talsperren in Deutschland schon immer nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik geplant, gebaut und betrieben werden, haben unsere Anlagen aber auch diesen außergewöhnlichen Belastungen standgehalten.
Wird das kontrolliert?
Carstensen: Es ist in Deutschland selbstverständlich, dass alle Talsperren zuverlässig und wirksam überwacht werden. Um für den sehr unwahrscheinlichen Fall der Gefahrenfreisetzung gewappnet zu sein, werden neben einer permanenten visuellen Kontrolle periodisch Messergebnisse vom und zum Bauwerk erhoben etwa der Sickerwasserabfluss oder die Setzung des Bauwerkes. Die einwirkenden Parameter wie der Zufluss und Wasserstand werden permanent ausgewertet und interpretiert, die Nutzung und die Zugänglichkeit der Anlagen nach vorgegebenen Sicherheitskriterien geregelt sowie projektspezifische Flutwellenpläne durch Eigentümer und Betreiber der Anlage vorgehalten. Auf diesen Grundlagen basiert dann wiederum die Erarbeitung und Einhaltung von Notfallplänen, die im Fall der Katastrophenabwehr zum Einsatz kommen.
Wie lange hält so ein Bauwerk?
Carstensen: Talsperren werden für sehr lange Lebenszeiten errichtet und sind demzufolge gemäß den an sie gestellten Anforderungen zu prüfen und grundsätzlich an den aktuellen Stand der Technik anzupassen. Die Anforderungen können sich ändern beispielsweise durch entsprechende Naturereignisse, neue Baustoffe oder -technologien sowie ein höheres Sicherheitsinteresse.
Wer ist zuständig?
Carstensen: Dem Prinzip der Eigenüberwachung durch den Betreiber oder auch auf Anordnung durch die zuständige Landes- oder Bundesbehörde sind Talsperren gemäß unserem Wasserhaushaltsgesetz in zeitlichen Abständen von etwa zehn Jahren einer vertieften Überprüfung zu unterziehen. Es wird nichts dem Zufall überlassen. Geprüft und begutachtet werden speziell die Zuverlässigkeit sowie der bauliche Zustand der Absperrbauwerke und Einzelbauwerke, die Standsicherheit und Stabilität der Stauraumhänge, die Hochwassersicherheit.
Zwei Talsperren sind in Bundeshand, die meisten nicht. Sind die Kompetenzen klar geregelt?
Carstensen: Selbstverständlich! Die Eder- und die Diemeltalsperre sind in der Zuständigkeit des Wasser- und Schifffahrtsamts Weser, einer Behörde des Bundes. An den verbleibenden 369 großen Talsperren werden in den einzelnen Bundesländern in Deutschland durch Staatsbetriebe, Anstalten des öffentlichen Rechts oder öffentlich-rechtliche Unternehmen hoheitliche sowie gewerbliche Aufgaben des Talsperrenwesens wahrgenommen.
Gibt es ein Warnsystem und wie funktioniert das?
Carstensen: Für derartige Systeme werden Regel- oder Normalwerte der speziellen Systemparameter festgelegt. Diese werden mittels entsprechender Mess- oder Kameratechnik erfasst, wobei grundsätzlich mehr als ein System zum Einsatz kommen, um die Zuverlässigkeit der Überwachung auf einem hohen Standard zu halten und Fehlalarme auszuschließen. Werden relevante Messwerte unter- oder überschritten oder Beobachtungen von Zuwiderhandlungen festgestellt, setzt automatisch ein entsprechendes Benachrichtigungssystem zuständiger Behörden und Personen ein. Diese handeln dann nach vorhandenen Notfall- oder Katastrophenplänen.
Sind Warnungen per App möglich?
Carstensen: Die Warn-App NINA, eine Notfall-Informations- und Nachrichten-App des Bundes, kann jede Person in Deutschland auf dem Smartphone Warnmeldungen des Bevölkerungsschutzes für unterschiedliche Gefahrenlagen erhalten. Das Warnsystem KATWARN, ebenfalls eine App für das Smartphone, übergibt ebenfalls offizielle Warnungen und Handlungsempfehlungen autorisierter Behörden und Sicherheitsorganisationen an betroffenen Menschen.
Werden Katastrophen wie die in der Ukraine von internationalen Teams untersucht, um die Ergebnisse zu studieren und Schlussfolgerungen zu ziehen?
Carstensen: Es ist davon auszugehen, dass jede Havarie oder Katastrophe an oder infolge einer Talsperre Untersuchungen der Ursachen und Folgen nach sich gezogen hat. Dies bedarf nicht immer eines internationalen Teams, wird aber auf jeden Fall von Fachleuten verschiedener Wissenschaftsgebiete vorgenommen. Die Erkenntnisse werden in der Regel auf internationalen Konferenzen vorgestellt und in einschlägigen Fachzeitschriften veröffentlicht. Das zentrale internationale Organ hierfür ist 1928 gegründete Internationale Kommission für Große Talsperren mit Sitz in Paris. Die Erfahrungen und Kompetenzen zum Talsperrenwesen in Deutschland werden seit 1931 durch das Deutschen Talsperrenkomitee, das DTK, eingebracht. Dem DTK gehören mehr als 120 Fachleute des deutschen Talsperrenwesens und der Wasserkraftnutzung an. Die DTK-Mitglieder bringen ihr Know-how und das ihrer jeweiligen Körperschaften, Firmen und Institutionen in die Arbeit ein. Das DTK hat sich mit der Gründung das Ziel gestellt, Erkenntnisse, Erfahrungen und Kompetenz des deutschen Talsperrenwesens international zu verbreiten und umgekehrt die internationalen Entwicklungen beim Bau, Betrieb, Unterhaltung und Sanierung von Talsperren auf nationaler Ebene bekannt zu machen.
Gibt es in Deutschland neue Talsperren-Projekte, die in absehbarer Zeit realisiert werden sollen?
Carstensen: Ja, durchaus, auch wenn Talsperren in der Politik und Öffentlichkeit nicht prioritär behandelt werden. Deutschland ist grundsätzlich ein wasserreiches Land. Wissenschaftliche Studien haben erwiesen, dass seit Anfang der 90-iger Jahre der Wassernutzungsindex rückläufig ist. Dieser Index beurteilt die Auswirkungen auf die Wasserentnahmen im Vergleich zu den erneuerbaren Wasserressourcen und liegt gegenwärtig bei ca. 11 Prozent. Kritisch wird der Wert ab 20 Prozent – dann würde sich der sogenannte Wasserstress einstellen. Infolge der Klimaänderung hat sich in der gleichen Zeit in Deutschland ein Defizit zwischen dem Niederschlag und den Zuflüssen im Vergleich mit der Verdunstung sowie den Abflüssen unter Berücksichtigung des Wasserverbrauchs ausgebildet. Tatsächlich stehen uns aktuell ca. 15 Mrd. m Wasser weniger zur Verfügung. Dieser Verlust an Wasser tritt hauptsächlich im zum Teil extremen Absinken der Grundwasserstände zutage, was allerdings dem Großteil der Bevölkerung visuell verborgen bleibt.
Heißt das, wir brauchen mehr Talsperren?
Carstensen: Schauen wir in die Zukunft und beachten das vorhandene Wasserdefizit, dann ist der Bau neuer Talsperren aus meiner Sicht eine logische Konsequenz. Die regionalen Unterschiede des vorhandenen Wassers in Deutschland sind bekannt. Sie können durch Talsperren und angeschlossene Verteilersysteme ausgeglichen werden. Gegenwärtig werden etwa zehn Prozent der Bevölkerung mit aufbereitetem Wasser aus Talsperren versorgt. Dafür werden jährlich rund 570 Mio. m Wasser bereitgestellt. Perspektivisch gesehen, wird sich die Nachfrage deutlich erhöhen. Der Bedarf an weiteren Talsperren in Deutschland wird durch die Betreiber und Wasserversorger durchaus regelmäßig diskutiert und betont. Die letzte neu errichtete Talsperre, die Talsperre Leibis/Lichte in Thüringen, wurde im Jahre 2006 in Betrieb genommen.
Was wäre das Hauptproblem in Deutschland, wenn es keine Talsperren gäbe?
Carstensen: Ich denke, diese Frage sollte hinsichtlich der Zwecke einer Talsperre, den damit verbundenen Normen sowie den Nutzungen durch den Menschen beantwortet werden. Bei einer Zahl von 371 großen Talsperren in Deutschland sind diese nicht mehr wegzudenken und damit elementare Bestandteile unserer Kulturlandschaft geworden. Es gibt sie also und wir brauchen sie auch! Talsperren werden in Deutschland grundsätzlich von der Gesellschaft wertgeschätzt und akzeptiert. Sie zählen zu besonders sensiblen Elementen unserer Infrastruktur, sind aber stets auf einem sehr hohen wissenschaftlichen und technischen Standard errichtet, betrieben und kontrolliert worden.
Zum Autor
#Immobilien #bauen #Aachen