Freitag, 04.08.2023, 11:40
Kay Scheller kämpft als Bundesrechnungshof-Präsident gegen wachsende Steuerverschwendung. Nun schlägt er Alarm: Seit Corona geraten die Staatsfinanzen endgültig aus dem Ruder. Seine nächste große Streitfrage: Was bringen die Milliarden für den Klimaschutz wirklich?
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Stellen Sie sich einen Mann vor, der sich Ihnen als „faktenorientiert“ und „neutral“ vorstellt. Da gehen in Ihnen womöglich schon Alarmglocken an, denn wer kann das noch von sich sagen außer Sandmännchen und ein paar Schiedsrichtern? Wenn er dann noch erklärt, dass er und seine 1100 Mitarbeiter stets „objektive und unabhängig recherchierte Ergebnisse“ liefern, wechseln sich in Ihrem Kopf endgültig Blaulicht und Sirenen ab. Wir sind ja nicht beim FBI, oder?
Der Mann mit den großen Versprechen ist Kay Scheller, 63, Jurist und Präsident des Bundesrechnungshofs. Er sitzt jetzt am polierten Konferenztisch in seinem Büro in Bonn und lächelt derart unabhängigobjektivneutralfaktenorientiert, dass man ihm jeden Gebrauchtwagen abkaufen würde. Unvorstellbar, dass Scheller jemals auch nur eine rote Fußgängerampel ignoriert haben könnte. Beunruhigend ist aber, was dieser besonnene Beamte gleich alles so sagen wird.
Zum Beispiel, wenn er über den Bundeshaushalt spricht: „Es droht ein Kontrollverlust.“ Oder wenn er dann erklärt: „Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hatten wir als Staat eine derart schwere Aufgabe und Bürde zu tragen. Schulden und Zinslasten haben völlig neue Dimensionen erreicht.“
Es geht da nicht um zwölf Euro fuffzich falsch abgerechnete Spesen, sondern um Verschwendung im ganz großen Stil und am Ende auch um neue Milliarden für den Klimaschutz, von denen niemand genau sagen könne, was sie bringen. Mittlerweile seien „die Probleme nicht mehr zu ignorieren“, sagt Scheller. Zahlen gefällig?
„Von 1949 bis 2019 wuchs der Schuldenberg auf 1,3 Billionen Euro. Allein in den drei Notlagen-Jahren seither sind 850 Milliarden Euro an Kreditermächtigungen dazugekommen, teils versteckt in sogenannten Sondervermögen“, die ja auch nur neue Schulden sind.
Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse werde eigentlich chronisch gerissen. Die echte Neuverschuldung liege mit über 100 Milliarden Euro mehr als doppelt so hoch wie die offiziellen Zahlen von FDP-Finanzminister Christian Lindner. Schwups sind wir bei rund 2,2 Billionen Euro Miesen, rund 60 Prozent mehr als 2020. Und so düster geht das nun weiter, denn wegen der Zinswende explodiert noch eine andere Zahl. 2021 waren auf all die Schulden nur vier Milliarden Euro an Zinsen zu zahlen. Dieses Jahr sind es schon 40 Milliarden.
Dabei fehlt es dem Staat nicht an Geld: Allein der Bund hat nächstes Jahr 446 Milliarden Euro zur Verfügung. Aber: „Nur zehn Prozent des Bundeshaushalts sind flexibel für Neues nutzbar, 90 Prozent sind festgezurrt in gesetzliche Ansprüche, vertragliche Pflichten und viele Leistungen im Sozialbereich“, rechnet Scheller vor.
Zehn Prozent von 446 Milliarden – das klingt zwar immer noch viel. Aber damit kann man nicht mal die Bahn sanieren, geschweige denn das Land. Also müssten erst mal alte Subventionen überprüft werden, bevor man neue erfindet. Es müsste „neu priorisiert werden“. Stattdessen streitet die Ampelkoalition über Kindergrundsicherung, neue Hilfen für Industriestrompreise und Milliarden rund ums Gebäudeenergiegesetz.
Draußen ziehen Lastkähne träge über den Rhein. Scheller lächelt wieder. Noch ein Wasser vielleicht? Oder einen Gebrauchtwagen?
Die drei Verbündeten des „Hofs“
Spätestens jetzt ist man doch höchst alarmiert, weil er ja so etwas wie der Graf Zahl der deutschen Steuerzahler ist. Ihr Schutzpatron und Anwalt. Früher galt das eher als Erbsenzähler-Job. Wenn der Bundesrechnungshof rügte, hat kaum jemand gezuckt. Der Witz ist nämlich: Schellers Leute dürfen überall rein, jede Behörde ist auskunftspflichtig. Aber Sanktionsmöglichkeiten haben sie keine. Da müsste dann der Bundestag tätig werden. Gewaltententeilung eben. Schön und anstrengend zugleich. Auch für Schellers Leute, die andächtig nur von ihrem „Hof“ sprechen wie von einem Orden.
1950 gegründet, musste man im Jahr 2000 von Frankfurt ins alte Bonner Postministerium ziehen. Der „Hof“ ist eine oberste Bundesbehörde, die den eigenen Wirtschaftswunder-Charme bis in die liebevoll renovierte Kantine hinein konserviert, während drum rum alles den Bach, Pardon: Rhein runterzugehen scheint.
Bundesrechnungshof in Zahlen
1100 Beschäftigte hat der „Hof“, rund 900 davon sind als Prüfer bundesweit im Dauereinsatz
650 Kontrollen führen die Prüfer jährlich etwa durch
187 Millionen Euro Etat hat der „Hof“ selbst zur Verfügung
9 Prüfungsabteilungen unterhält der BRH. Die Prüfer arbeiten völlig unabhängig
Die drei Verbündeten des „Hofs“ sind der Haushaltsausschuss des Bundestags, die Schuldenbremse und die Öffentlichkeit, in der die Institution ein hohes Ansehen genießt, was auch mit ihrer Unabhängigkeit zu tun hat.
Nicht mal der Präsident kann seinen 900 Prüfern Anweisungen erteilen. Sie untersuchen nur, was ihnen selbst wichtig scheint. Mal entdecken sie das teure Desaster um die Sanierung des Segelschulschiffs „Gorch Fock“, mal „systemische Mängel“ bei der Bahn. Mal rügen sie das unausgegorene Bürgergeld, jüngst die geplante EU-Schuldenreform.
Dass Scheller CDU-Mann ist, merkt man den rund 650 jährlichen Prüfungen seiner Kollegen nicht an. Das Amt verändert seine Inhaber mehr als umgekehrt. Scheller steht nicht für parteipolitische Ideale oder Ideologie, sondern für Zahlen. Zahlen entziehen sich jeder Interpretation. Sie sind schmerzhaft eindeutig.
Und diese Zahlen wachsen und wuchern. In der aktuellen Ampelregierung scheint sich nur fortzusetzen, was unter der Großen Koalition von Union und SPD spätestens mit Corona 2021 begann, weshalb wir jetzt doch noch mal auf diese irre Pandemie zurückschauen müssen.
„Von Anfang an fehlte jedes Augenmaß – und das wurde später auch nie korrigiert“, erinnert sich Oliver Sievers, Leiter des Prüfungsgebiets IX 1 in der Ber- liner Außenstelle des „Hofs“, wo man unter anderem fürs Gesundheitsministerium zuständig ist. „Es wurde weit über jeden Bedarf hinaus eingekauft, immer kurzfristig. Bis heute ist das nicht nachvollziehbar. Da müssen viele in eine Art aktionistischen Panikmodus geraten sein. Kontrollen waren aktiv ausgeschaltet, erklärt wurde nichts.“
Gleich nach Beginn der Pandemie hatte das Gesundheitsministerium – damals noch unter CDU-Mann Jens Spahn – mit dem Kauf persönlicher Schutzausstattungen (PSA) begonnen. Das Problem sei nicht gewesen, dass ein übermüdeter Beamter mal nachts um drei eine zu hohe Rechnung unterschrieb, sagt Sievers. „Wir stießen eher auf einen totalen Kaufrausch.“
Corona brachte das blanke Chaos
Bei den besonders teuren Partikelfiltermasken etwa sei „das 13-Fache des vom Ministerium ermittelten Bedarfs eingekauft“ worden, sagt Sievers. Allein die Apotheken erhielten eine Zeit lang sechs Euro pro Maske für die Abgabe an vulnerable Gruppen, wundert sich seine Prüf-Kollegin Taris von Keller bis heute.
Der Wahnsinn bekam schnell Methode. Er habe sich „so manches Mal gefragt: Wie konnten die das unterschreiben? Oft wurde sogar mit Vorkasse bezahlt“, sagt Sievers. „Man hatte das Gefühl, auf eine Milliarde mehr oder weniger kam es da nicht an.“ So ging das weiter, wohin auch immer die Jäger des verlorenen Schatzes geschaut haben.
Etwa die Bürgertests in den vor jeder Wurstbude hochgezogenen Covid-Zeltchen: „Der Staat hat gezahlt, ohne verlässlich sagen zu können, ob Tests wirklich nachgewiesen wurden oder eben nicht“, so Sievers. Die Impfstoffbeschaffung? Wird den Bund bis 2025 weitere Abermillionen kosten, weil die Verträge eben laufen. Oder der Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst: „Wenn etwa 5000 neue Stellen in den Gesundheitsämtern der Kommunen geschaffen werden, muss der Bund doch vertraglich klären, ob die Stellen befristet oder unbefristet sind und bis wann sie besetzt sein sollen. Das fand aber nicht statt, ein schweres Versäumnis“, sagt Sievers.
„Die Idee war zu oft: Geld spielt keine Rolle. Regeln spielen keine Rolle. So funktionieren Rechtsstaat und Demokratie aber nicht.“ Selbstkritik oder gar Aufarbeitung im Ministerium? Bis heute Fehlanzeige. Dieses Muster zog sich weiter durch alle zuständigen Regierungsressorts, vor allem durch das Wirtschaftsministerium, damals noch unter CDU-Mann Peter Altmaier.
Erst wurden Wirtschaftssoforthilfen beschlossen. Bis Juni 2022 auch Sofort- und Überbrückungshilfen geleistet.
Es gab die November- und Dezemberhilfen sowie Härtefallregelungen. „Da sind wir schon bei fast 62 Milliarden Euro“, sagt Arne Steuer, Leiter des Prüfungsgebiets III 6 in Bonn. „Und das war nur eine von vier Säulen, mit denen der Bund die Wirtschaft stützen wollte.“ Obendrauf gab’s KfW-Darlehen, Bürgschaften und den Wirtschaftsstabilisierungsfonds, der große Unternehmen retten sollte.
„Die Idee war zu oft: Geld spielt keine Rolle. Regeln spielen keine Rolle. So funktioniert Demokratie aber nicht“ , Oliver Sievers, Leiter Prüfungsgebiet IX 1
Kontrollverlust? „Schon eingetreten“
„Insgesamt addierten sich die Hilfen auf rund 130 Milliarden Euro“, so Steuer, der in solchen Fällen nicht jeden Beleg checkt, sondern lieber strukturelle Fragen stellt. „Und da muss ich sagen: Unsere systemische Kritik zog sich durch alles, was wir untersucht haben.“
Es geht den Prüfern übrigens nicht darum, die Dinge nach dem heutigen Wissensstand zu beurteilen. Viele Corona-Maßnahmen ließen sich schon in der damaligen Notlage nicht rechtfertigen. Dringend notwendige Erfolgskontrollen habe es „allenfalls in Bruchstücken gegeben“. Andere Staaten hätten zudem „sehr viel mehr darauf Wert gelegt, dass die Hilfen rückzahlbar sind. Deutschland hat dagegen hohe Summen einfach verschenkt.“ Jede Gebrauchtwagenbutze ist besser organisiert.
„Was seit 2020 passiert ist, hat gefährliche Dimensionen angenommen“, bilanziert Bernhard Ehmann, Leiter der Prüfungsabteilung III. „Langsam geht es an grundsätzliche Dinge: Kann Deutschland seinen Wohlstand halten? Wie teuer werden die Klimaschutzmaßnahmen? Und was bringen sie wirklich? Das bereitet uns schon Sorge, denn die Antworten betreffen auch unsere Kinder.“ Irgendwer muss die Rechnung ja mal zahlen. Früher sei noch gezuckt worden, wenn ein Milliardenbetrag bereitgestellt werden musste. „Heute zuckt da kaum noch jemand.“
Arne Steuer von Abteilung III 6 kann sich da richtig in Rage reden: „Bei Corona wie jetzt beim Thema Energie nimmt der Bund reflexhaft einfach hohe Milliardenbeträge in die Hand“, womit wir bei einer Grundsatzfrage sind: Kann dieses Land und seine Regierung überhaupt noch mit Geld umgehen?
„Der Kontrollverlust ist eigentlich schon eingetreten. Die Situation ist wirklich ernst“, findet Jan Keller, Leiter des Prüfungsgebiets I 2 in Bonn. Sein Team ist unter anderem für Bundesfinanzen und Haushaltsrecht zuständig. „Und wir müssen befürchten, dass es noch bedrohlicher wird.“
Für Birgit Meichsner, Leiterin des Prüfungsgebiets I 6 (Rechnungsabschluss), wird es immer dann „gefährlich“, wenn die Politik „schnelle und unbürokratische Hilfe ankündigt. Das bedeutet in der Regel Gießkanne – und ist nicht effizient.“ Und Volker Mayer aus dem Prüfungsgebiet I 2 sagt: „Das alles bedeutet nicht nur, dass die aktuellen Haushalte kaum zu finanzieren sind, sondern dass wir die zukunftsrelevanten Themen überhaupt nicht mehr steuern können.“
Wohin man hört im sonst so zurückhaltenden „Hof“, hier ruft ein Chor der Entnervten. Es geht um Tricksereien, Bilanzkosmetik und schiere Verschwendung.
Und damit sind wir endlich beim Klimaschutz und zurück bei Präsident Scheller, den das Thema neuerdings umtreibt wie kaum ein anderes. Die Ziele seien ja klar: „Eine immer umweltfreundlichere Versorgung mit Energie, die aber auch bezahlbar und sicher bleiben soll.“ Scheller zweifelt jedoch sehr, was den Weg angeht: „Wir erleben große Probleme bei der Versorgungssicherheit. Preisgünstiger ist die Energie nicht geworden. Und höhere Umweltverträglichkeit kann ich bislang nicht erkennen, wenn zwar Atommeiler stillgelegt, zugleich aber Kohlekraftwerke wieder hochgefahren und FlüssiggasTanker aus den USA bestellt werden.“
Scheller ist nicht allein mit seiner Skepsis. Er bekomme auch von Rechnungshofkollegen aus dem Ausland mittlerweile „viele Fragen gestellt“. Die deutsche Energiewende sei dort „kaum mehr nachvollziehbar“.
Als Präsident des „Hofs“ ist er übrigens auf zwölf Jahre gewählt. Drei hat er noch vor sich. Wenn er geht, wird er 66 sein. Bis dahin hat er viel zu tun, so viel ist klar. Und er wird keine Ruhe geben: „Wir wollen wissen, was der Klimaschutz unterm Strich kostet und was er bringt“, insistiert Scheller: „Die Regierung möchte ja, dass ein Programm einen Effekt erzielt und dass Ziele erreicht werden.“ Bei vielen Klimaschutzprogrammen sei das „häufig nicht erfüllt. Ebenso wenig bei den Energieeffizienz-Programmen. Der Staat weiß teilweise nicht, welche seiner Maßnahmen überhaupt funktionieren.“
Als Beamter ist er bisweilen, nun ja, irritiert: „Koordinieren und steuern – das ist eigentlich tägliches Verwaltungshandwerk.“ Also noch mal die Frage: Kann die Ampel mit Geld umgehen? „Sie ist jetzt gezwungen, die richtigen Priorisierungsentscheidungen zu treffen – wie jeder Kämmerer und jeder Bürger“, womit wir noch mal bei ihm selbst sind: dem Beamten, Bürger, Steuerzahler Scheller.
Maßhalten habe ihn zeit seines Lebens geprägt, sagt er. Maßhalten … verrücktes Wort im Jahr 2023. Für manche wirkt das oldschool wie sein 50er-Jahre-Dienstsitz. Wie der „Hof“ an sich. Dabei klappe das mit dem Maßhalten auch bei ihm zu Hause in der Familie gut, sagt Scheller: „Es wird nur das ausgegeben, was da ist. Und das in der Regel sinnvoll.“
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#Immobilien #Steuern #Aachen